Wissenschaft als Prozess der Wissensentwicklung und kritischen Prüfung vorhandenen Wissens wird bei aller Digitalisierung und KI von und durch Menschen gemacht. Der Mensch selber ist bei aller Vielfalt an Methoden das wichtigste Erkenntnisinstrument. Er beobachtet, sammelt Daten und Informationen, wertet aus, interpretiert, diskutiert seine Forschung in der Scientific Community und verfasst einen Forschungsbericht.
Neues Wissen wird durch Menschen generiert. Darum braucht es eine reflexive Wissenschaft. Denn für die Qualität und umfassende Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse ist ausgesprochen wichtig, dass der forschende Mensch als Erkenntnisinstrument und -subjekt in seinen Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungsprozessen möglichst geklärt von unbewussten verzerrenden Einflüssen (Bias) ist.
Forschungssupervision und Qualitätssicherung in einer reflexiven Wissenschaft
Für eine derartige Klärung der Forscherinnenpersönlichkeit ist begleitend zum Forschungsprozess bzw. integriert in diesen eine kontinuierliche Selbstreflexion und kollegiale Forschungssupervision wichtig. In dieser geht es um i. d. R. unbewusste persönliche, soziale, kulturelle und gesellschaftliche Motive und Konditionierungen der Forschenden.
Diese Prägungen sind als Bias mit unbewussten Identifikationen und emotionalen Bewertungen bzw. Neigungen (+/-) verhaftet, die den wissenschaftlichen Prozess mit seinen Richtungsentscheidungen, Fokussierungen und Ergebnissen wie blinde Flecken beeinflussen. Hierzu gehört auch die Abhängigkeit von und unbewusste Anpassung an Autoritäten und etablierte Schulen bzw. Methoden im Feld der Wissenschaft. In einer freien innovativen Wissenschaft sollte JEDE Position und JEDE Methode kritisch hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen reflektiert werden, um zur Entwicklung der Forschung beizutragen.
Grundlage einer solchen reflexiven Wissenschaft mit einer offenen Kommunikationskultur ist, dass Forschende ihre persönlichen und fachlichen Interessen und Motivationen für ihre Forschung radikal offenlegen. Hierfür bedarf es eines Wandels der traditionellen objektivistischen Wissenschaftskultur, in der die Subjektivität, das Menschsein der Forschenden ausgeklammert, ja verleugnet wurde.
Kritische Reflexion von Machtverhältnissen und Identifikationen
Tiefenpsychologische, vor allem ethnopsychoanalytische Ansätze beleuchten das im Verborgenen wirkende persönliche und gesellschaftliche Unbewusste in Verbindung mit Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten. Für eine tiefe herrschaftskritische Reflexion der Forschersubjekte in ihren Forschungsprozessen sind diese Ansätze daher sehr nützlich. Sie können in Forschungssupervisionen zur Qualitätssicherung und Innovationskraft einer freien transparenten Wissenschaft beitragen.
Um ein Beispiel zu geben: Ein Nachwuchswissenschaftler arbeitet an seiner Promotion. Er bekommt Ängste wegen der Komplexität seines Forschungsthemas und Zweifel, ob er dieses gut bewältigen kann. Um handlungsfähig zu bleiben, die Angst zu bewältigen und Sicherheit zu gewinnen, bemüht er sich um die reine dogmatische Anwendung einer Forschungsmethode. Mit dieser Methode identifiziert er sich total in seiner wissenschaftlichen Arbeit und sie wird nicht kritisch hinterfragt. Im Sinne einer selbstreflexiven Wissenschaft könnte dieser Forscher seine den komplexen Forschungsprozess latent begleitenden Gefühle der Unsicherheit und Angst wahrnehmen und fühlen. Er könnte verstehen, dass diese Gefühle in der Suche nach Sicherheit seine starre, dogmatische Anwendung der Forschungsmethode motivieren. Durch diese tiefe Selbstreflexion könnte er innere Freiheit und zusätzliche wertvolle Erkenntnisspielräume für seinen Forschungsprozess hinzugewinnen. Und forschungsmethodisch könnte er flexibler agieren und ein innovatives, für den Forschungsgegenstand adäquateres Forschungsdesign gestalten. (vgl. G. Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften)
Eine andere Gefahr für die objektive Erkenntnisgewinnung im wissenschaftlichen Prozess ist die zu starke Identifikation mit einem positiven von eigenen Werten getragenen Ziel der eigenen Forschung. Insbesondere wenn die Forschenden für ihr emanzipatorisches Forschungsthema auch persönlich und gesellschaftlich engagiert sind besteht hier ein Risiko.
Wichtig wäre in diesem Fall, die eigene wissenschaftliche Arbeit gerade wegen des persönlichen Engagements fürs Thema zu entidealisieren. Dazu gehört auch die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass die eigenen Forschungsergebnisse gemessen an den hehren emanzipatorischen Idealen ernüchternd und etwas frustrierend sein könnten.
Reflexive Wissenschaft braucht Forschende mit Stehvermögen und kritischer Selbstreflexion
Die Forschenden selber als Menschen in der Wissenschaft mit unterschiedlichen Kompetenzen und Prägungen sind Mittelpunkt meiner Beratungs- und Bildungsarbeit im Feld der Wissenschaft. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mit denen ich zusammenarbeite, zeichnen sich durch ihre Passion und Professionalität für die Wissenschaft aus. Doch sie haben wie wir alle auch ihre persönlichen und sozialen Prägungen, die ein freies Wahrnehmen und Denken in der wissenschaftlichen Arbeit beschränken können. Umso wichtiger ist die offene Kommunikation und Reflexion der eigenen Vorannahmen und Intentionen in Bezug auf den Forschungsgegenstand. Dies, um möglichen durch soziokulturelle Prägungen bedingten Wahrnehmungsverzerrungen und Denkbeschränkungen, den eigenen blinden Flecken (Bias), kritisch auf die Spur zu kommen und diese aufklären zu können.
Erst dieses umfassende reflexive Vorgehen in Forschungsprozessen, welches die forschenden Menschen als Subjekte der Wissenschaft mit ihrer Subjektivität kritisch-reflexiv einbezieht, ermöglicht eine wahrhaft objektive Wissenschaft durch den Weg einer „Objektivierung des Subjektiven“ (Pierre Bourdieu) – soweit möglich und nötig – zu realisieren.
Im Rahmen einer ganzheitlichen Wissenschaft gilt somit die Loyalität engagierter Forscher*innen der Wahrheit des Erkenntnisprozesses selber – in Bezug auf den Forschungsgegenstand und in Bezug auf die eigene Persönlichkeit.
Wissenschaft ist so betrachtet ein Dienst an der Wahrheit des Wissens, bei dem das Ego der Forschenden und Geldgeber keine Rolle spielen sollte.
Da die Wahrheit der Erkenntnis zuweilen auf soziale oder kulturelle Widerstände stößt, brauchen Wissenspioniere in einer freien Wissenschaft eine echte geistige, emotionale und soziale Eigenständigkeit (siehe obige Ausführungen zur Selbstbestimmung des Menschen), die ihnen eine innere Sicherheit und Stabilität gibt, die sie in der faszinierenden dynamischen Welt der Wissenschaft niemals finden können, doch in dieser brauchen, um gut zu bestehen.